Forschung
Projekte von Prof. Dr. Andreas Bähr
Athanasius Kircher (1601/02–1680). Eine biographische Enzyklopädie (abgeschlossen)
Ziel dieses Forschungsprojekts ist eine „biographische Enzyklopädie“ des Jesuitenpaters und „Universalgelehrten“ Athanasius Kircher (1601/02–1680). Kircher repräsentiert wie wenige andere Zeitgenossen die vielschichtigen historischen Spannungen und Umbrüche des 17. Jahrhunderts. Sein gelehrtes Leben begann auf der Flucht vor der Gewalt des Dreißigjährigen Krieges und fand seit Anfang der 1630er Jahre seine Fortsetzung im Collegium Romanum in Rom. Es formierte sich an der Schnittstelle von religiösen, magischen und wissenschaftlichen Wissensbeständen, von scholastisch-aristotelischen, hermetisch-neoplatonischen und neuen empirischen Erkenntnisverfahren, von Natur-, Welt- und Heilsgeschichte. Kirchers Biographie ist zu schreiben vor dem Hintergrund seines umfangreichen Werkes, das die ganze Welt naturphilosophisch zu erfassen und religiös, politisch und sozial zu gestalten versuchte und dabei in großem Maße auch außereuropäisches Wissen verarbeitet hat. Aus dem synoptisch-enzyklopädischen Charakter dieses Œuvres erhält die hier projektierte Biographie ihre formale und inhaltliche Struktur. Sie sucht die kulturtheoretisch erneuerte Biographik methodologisch weiterzuführen, indem sie verschiedene Lebens-Geschichten erzählt, im Spannungsfeld von autobiographischer Selbst- und zeitgenössischen Fremdbeschreibungen, und diese nach zentralen Begrifflichkeiten ordnet. So erprobt sie neue Möglichkeiten biographischen Schreibens unter den Bedingungen spezifisch frühneuzeitlicher Konzeptualisierungen von Personalität.
Das Projekt wurde von 2012 bis 2017 von der Gerda Henkel Stiftung, der Fritz Thyssen Stiftung und der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert.
English version
Athanasius Kircher (1601/02–1680): A Biographical Encyclopedia
This research project is a “biographical encyclopedia” of the German Jesuit and polymath Athanasius Kircher (1601/02–1680). Kircher’s life embodies the complex historical tensions, changes and upheavals of the 17th century: after fleeing from the atrocities of the Thirty Years’ War he did not, as originally planned, go to the Orient as a missionary, but spent the second half of his life at the Collegium Romanum in Rome. His scholarship, in turn, was situated at the interface between religious, magical and scientific knowledge as well as between the histories of salvation, nature and the world. Kircher’s biography cannot be written without considering his extensive oeuvre, which sought to comprehend the world as a whole and adopted much non-European knowledge. I have decided that the best way of approaching Kircher’s biography in terms of content and formal structure is to mirror the encyclopedic character of his own works. Juxtaposing different accounts of his life and arranging them according to the concepts of his own time, this project contributes to the methodologically fascinating question of how to write the biography of a person in an age that had yet to develop the notion of autonomous selfhood.
From 2012 to 2017, this project was funded by the Gerda Henkel Foundation, the Fritz Thyssen Foundation and the German Research Foundation (DFG).
Traumerzählungen des Ersten Weltkriegs
Das Projekt untersucht Traumerzählungen aus der Zeit des Ersten Weltkriegs: Es lotet aus, ob und in welcher Weise sich die Zeitenwende des ‚Großen Krieges‘ in Beschreibungen nächtlicher Bilder manifestiert. Auf diese Weise trägt das Vorhaben auch zur Geschichte der Traumdeutung bei. Auf der einen Seite führten das neu beobachtete Phänomen der Kriegsneurose und die Träume der betroffenen Soldaten zu einer partiellen Revision der psychoanalytischen Interpretation von Träumen als Erfüllung unerfüllbarer Wünsche. Auf der anderen Seite zeitigten die Kriegsjahre eine signifikante Konjunktur und Transformation frühneuzeitlicher Vorstellungen von Divination: der Auffassung, Träume könnten die Zukunft verkünden. Im Projekt werden Traumerzählungen in Briefen, Tagebüchern und Autobiographien vor dem Hintergrund wissenschaftlicher und religiöser Diskurse sowie literarischer und publizistischer Verarbeitungen gelesen. Dabei werden Texte von Frontsoldaten ebenso herangezogen wie solche von Zivilpersonen. In diesen Erzählungen zeigt sich das Grauen des Stellungskriegs in einer eigenen Bildlichkeit; und es zeigt sich die Unvertrautheit und historische Ferne des Großen Krieges.
Urban Dietrich Lüdecke / Samuel Stryk: Über die Neugier. Ein Editionsprojekt
„Wir leben in einer neugierigen Zeit, in der alles, was nicht den Duft der Neugier verströmt, wenig beachtet oder gänzlich vernachlässigt wird.“ Mit dieser zeitkritischen Diagnose beginnt Urban Dietrich Lüdeckes Dissertation „De curiositate“, mit der der Autor 1677 sein Studium der Rechtswissenschaften an der Brandenburgischen Universität in Frankfurt an der Oder beschloss. Der fachliche Ort der Schrift ist bemerkenswert. Denn auch wenn die „curiositas“ eine der kulturellen Signaturen des 17. Jahrhunderts darstellte, auch wenn das Säkulum eine Zeit war, in der Naturkundige, Moralphilosophen und Theologen die Neugier aus dem mittelalterlichen Todsündenregister befreiten und in den Rang einer epistemischen Tugend erhoben: Für die Jurisprudenz war die Neugier ein ungewöhnlicher Stoff.
Lüdecke, ein Schüler von Samuel Stryk, suchte mit der juristischen Thematisierung der „curiositas“ einen Beitrag zur Verwissenschaftlichung und zeitgemäßen Rezeption des römischen Rechts („usus modernus pandectarum“) zu leisten. Damit löste er die Neugier aus den genuin theologischen und philosophischen Diskursen heraus und stellte sie in den Dienst des sich formierenden brandenburgisch-preußischen Staates.
Die in Vorbereitung befindliche Edition von Lüdeckes „De curiositate“ basiert auf einer Übersetzung von Friedrich Winterhager (Hildesheim), die von Andreas Bähr für die Publikation bearbeitet und mit einer Einleitung versehen wird. Von Andrea Gáldy (Ottobeuren), Swantje Niemann, Felix Töppel und Julius Twardowsky (Europa-Universität Viadrina) wird ein Stellen-, Personen- und Sachkommentar erarbeitet. Die Edition erscheint 2024 als Band 2 der Schriften des Vereins für Universitätsgeschichte in Frankfurt (Oder).
Betreute Dissertationen
Von sprechenden Dingen und stummen Objekten. Zur Metaphorizität objektgebundener Historiografie (abgeschlossen)
Lebenswelten einfacher preußischer Soldaten im 18. Jahrhundert
„La reine n‘a jamais été belle“. Körper, Herrschaft und Emotionen in Selbstzeugnissen der
Neuzeit (17. und 18. Jahrhundert)
Das Dissertationsprojekt beschäftigt sich anhand höfischer Selbstzeugnisse mit den Vorstellungen und der Diskursivierung ‚schöner Körper’ und ihrer Bedeutung für Beziehungskonfigurationen am Fürstenhof. Das Vorhaben verortet sich programmatisch innerhalb der Konzeption einer Ökonomie sozialer Beziehungen. Dabei fokussiert es auf den (un)schönen Körper, dessen Inszenierung und Diskursivierung als Ressource und Gegenstand einer „sozialen Technik des Transfers, der Bewertung und der Konvertierung“ (G. Jancke / D. Schläppi) gelesen werden soll. Körperschönheit gerät so als ein sozial, kulturell und politisch relevantes Vermögen in den Blick, welches in verschiedenen Kontexten verhandelt, bekräftigt, erinnert, attestiert oder dementiert wurde – und für die historischen Akteurinnen und Akteure eine mitunter bedeutende machtpolitische Produktivität zu entfalten versprach. Die Untersuchung macht sich zur Aufgabe, die Situationen und Variablen dieser ‚Verhandlung’ von Schönheit zu ermitteln und visiert so einen Zusammenschnitt von Kultur- und Politikgeschichte an. Denn die erzählten Körper werden in den Zeugnissen als Teil sozialer und machtökonomischer Strategien lesbar und offenbaren ihre Verflechtungen mit moralischen, politischen, kulturellen und religiösen Fragen und Spannungen der Zeit. Die Annahme, dass (sowohl leibliche als auch inszenierte) Körper als Manifestationsort von Schönheit im Lauf des 18. Jahrhunderts deutlich an Gewicht gewinnen – und zwar in eben dem Maße, in dem Geschlechterkonzepte verkörperlicht und zunehmend biologisiert werden –, soll überprüft und mit Blick auf Strategien der Ästhetisierung von Körpern beleuchtet werden. Ausgehend davon, dass die Diskursmacht, die an Schönheit gebunden und durch die Schönheit erzeugt wird, eng mit der Wirksamkeit „performierter Emotionen“ (C. Jarzebowski) verzahnt ist, soll in diesem Zusammenhang nach der Kodierung von Emotionen in körperbezogenen Verhandlungssituationen gefragt werden. Die in den Selbstzeugnissen (vor allem des 17. und 18. Jahrhunderts) bemerkenswerte Präsenz ‚(un)schöner Körper’ lässt vermuten, dass Schönheit und Hässlichkeit von den Akteurinnen und Akteuren als Mittel und Instrumente im Feld des Emotionalen – sei es individuell oder kollektiv – wahrgenommen und auch mobilisiert wurden. Die Untersuchung von Schönheitskonzepten und -diskursen in fürstlichen Selbstzeugnissen ermöglicht damit einen vielversprechenden emotionsgeschichtlichen Blick auf Herrschaftskonzepte und deren Legitimierung.
The Contours of Historical Inquiry: Tacit Definitions of ‘History’ and ‘Science’ in 1970s Theories of Historiography